20. 1. 2022
creative.talk

Lisette Reuter
Un-Label

Von „Haus aus“ ist Lisette Reuter im Bereich von Inklusion und Kultur aufgewachsen, sie hat Sonderpädagogik studiert, ist aber nie in den Schuldienst gegangen, weil sie die Starrheit des Bildungssystems als eines der größten Hindernisse für eine inklusive Bildung empfand. Sie entschied sich für ein zweites Diplomstudium und landete nach der Universität im internationalen Kulturbereich, wo sie über viele Jahre europaweit Projekte zur Unterstützung von jungen Kulturschaffenden im Bereich der darstellenden Künste entwickelte und implementierte. Es folgte eine weitere wichtige Erkenntnis: Obwohl alle diese Projekte auf dem Papier das Ziel hatten, die Sichtbarkeit von unterrepräsentierten Künstler:innen zu verbessern und die Diversität im Kunst und Kulturbereich zu fördern, war keines dieser Projekte tatsächlich zugänglich für Kulturschaffende mit Behinderung. Vor acht Jahren gründete Lisette Reuter dann die internationale Vernetzungs- und Projektplattform Un-Label, um Brücken zu schlagen und Innovation und Vielfalt voranzutreiben.

Foto: © Adam Kroll

Wann und aus welcher Situation heraus ist die Idee zu Un-Label entstanden? Und wie hat sich das Projekt seitdem entwickelt?  

Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass ca. 19 %[1] der europäischen Bevölkerung eine Behinderung haben, wir reden also von einer sehr großen Bevölkerungsgruppe. Im Vergleich dazu ordnen sich z.B. in Deutschland ungefähr 7,4 % der Bevölkerung dem LGBT-Spektrum zu. Menschen mit Behinderung werden strukturell (nicht nur im Kulturbereich) besonders diskriminiert und benachteiligt und haben noch immer nicht dieselben Teilhabechancen in der Kultur – und das, obwohl z.B. das Recht der Teilhabe am kulturellen Leben schon 1948 in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert worden ist. Es wird also eine sehr große Gruppe an Menschen in der Diversitätsdebatte im Kulturbereich außer acht gelassen. Gesellschaft und Politik haben es die letzten Jahrzehnte größtenteils versäumt, Kunst und Kultur für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen. Ich hatte die Vision, dass alle Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich als Künstler:innen in einer Welt auszudrücken, in der Unterschiede als wertvoll angesehen werden. Ich wollte zeigen, dass jede:r Mensch Zugang zu Kultur haben kann und dass Inklusion ein realisierbares Ziel ist. Das war die Grundmotivation, warum ich mich 2013 selbstständig gemacht und die erste große internationale mixed-abled Tanztheater-Performance umgesetzt habe, die Künstler:innen mit und ohne Behinderung, aus verschiedenen künstlerischen Genres und aus zehn verschiedenen Ländern in Köln zusammengeführt hat. Dieses Projekt war ein großer Erfolg und der Startschuss für die Gründung von Un-Label. Danach wollte ich den Ansatz auf eine europäische Dimension skalieren und stellte erfolgreich einen Antrag beim EU-Programm Creative Europe. Ab diesem Zeitpunkt war es dann ein organisches Wachsen, und Un-Label hat sich von einem Projekt zu einem der innovativsten europäischen Sozialunternehmen im Bereich der kulturellen inklusiven Praxis weiterentwickelt. Seitdem konnten unzählige Kulturschaffende mit und ohne Behinderung aus ganz Europa zusammengebracht, inspiriert und vernetzt werden. Jeden Tag bin ich seitdem auf dem Weg, Kunst und Kultur neu zu denken, Visionen auszugestalten und mich für das Menschenrecht der kulturellen Teilhabe einzusetzen. Mittlerweile reichen die Un-Label-Aktivitäten von der Beratung und Unterstützung anderer Kultureinrichtungen und politischer Akteuren:innen bis hin zu eigenen künstlerischen Produktionen, Netzwerkaktivitäten, Symposien, kreativen Workshops, Forschungsaktivitäten etc. Sie alle haben gemein, dass wir immer versuchen, Projekte umzusetzen, um die Gesellschaft systemisch verändern. Ein wichtiges Credo ist dabei, dass wir unser Wissen mit anderen teilen, denn ich bin davon überzeugt, dass wir nur gemeinsam nachhaltig etwas bewegen und Gesellschaft zum Positiven verändern können.

Ziel von Un-Label ist es laut Ihrer Homepage, „etablierte Konzepte von Körper, Raum und Gesellschaft zu hinterfragen“ und damit „eine Erweiterung der tradierten Kriterien in der zeitgenössischen Kultur zu ermöglichen.“ Welche Konzepte und Kriterien sind das konkret, und wie könnten diese in Zukunft aussehen? 

Da Kultur eine zentrale Rolle bei der Förderung der vollen menschlichen Entwicklung und der Verwirklichung der Menschenrechte spielt, geht es auch um Fragen der Demokratie, wenn wir nach kultureller Teilhabe fragen. Wir müssen also die vorherrschenden Kriterien und Konzepte hinterfragen. Denn wer partizipiert eigentlich aktuell an wessen Kultur? Schafft es die Kunst, den verschiedenen Stimmen der Gesellschaft Gehör zu verschaffen und den unterschiedlichen Körpern Raum zu geben? Ist die Teilhabe an der Kultur gesichert, und wer kann und darf sie verteidigen?
Wir wissen alle aus der Praxis, dass nicht jede:r die Chance hat, Kultur zu erleben, an ihr teilzuhaben oder sie zu gestalten. Kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist aber kein „nice to have“, sie ist ein Menschenrecht, und wenn Menschen vom kulturellen Leben ausgeschlossen werden, kann dies Folgen für das Wohlergehen und sogar die Nachhaltigkeit der sozialen Ordnung haben. Es wird also immer offensichtlicher, dass exklusive Kulturprogramme ein Legitimationsproblem haben, weil sie wichtige Gruppen der Gesellschaft nicht ansprechen und abholen. Wir müssen uns fragen: In was für einer Gesellschaft wollen wir zukünftig leben?
Damit sind wir auch gleich bei dem politischen Auftrag und der gesellschaftlichen Brückenfunktion von Kunst und Kultur. Kunst und Kultur zeigen die Diskurse der Gesellschaft auf, die sich zum einen auf die Vergangenheit und den Umgang mit überlieferten Werten beziehen, aber zum anderen auch immer eine zukunftsorientierte Dimension haben. Kunst und Kultur haben somit immer eine Vorbildfunktion, und die hier entwickelten Prozesse sind auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragbar.
Es ist also gerade im Kulturbereich unsere Aufgabe, Stigmatisierungen abzubauen und dafür zu sorgen, dass er für alle zugänglich ist. Deswegen halte ich es für besonders wichtig, neue Konzepte und Kriterien für Berufsbilder, Techniken, Formate zu entwickeln, die einen inklusiven Systemwandel vorantreiben.
Wir brauchen die Sichtbarkeit von bisher unterrepräsentierten Kunstschaffenden mit ihren einzigartigen Perspektiven, denn sie produzieren neue und einzigartige Kunst. Dadurch werden inklusive Erfahrungen und spannendere Ergebnisse für ein breites Publikum realisiert, die zum Perspektivwechsel anregen, die für die Entwicklung einer demokratischen, vielfältigen Gesellschaft wichtig sind und die wiederum die Relevanz von Kultur in unseren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen stärken. Kultur muss also barrierefrei gesehen und gestaltet werden und von der Perspektive der Menschen mit Behinderung lernen, um ein neues Bild einer diversitären Gesellschaft zu schaffen.

In Ihrem Projekt „ImPArt“ beschreiben Sie „Barrierefreiheit als Impuls für Innovation im künstlerischen Prozess“. Eine typische Reaktanz seitens Kunstschaffender ist ja, dass entsprechende Maßnahmen oft als Einschränkung ihrer „künstlerischen Freiheit“ empfunden werden. Wie begegnen Sie diesem Reflex? 

In dem EU-Projekt „ImPArt“  haben wir über 2,5 Jahre mit über 350 internationalen Kulturschaffenden an dem Ansatz „Aesthetics of Access“ geforscht – ein Ansatz, der von der Gleichberechtigung der Perspektiven von Menschen mit und ohne Behinderung ausgeht und das enorme Potenzial eines barrierefrei gedachten und praktizierten Kunstverständnisses entdeckt, ausschöpft und erfahrbar macht. Durch „Aesthetics of Access“ werden die Mittel der Barrierefreiheit zu künstlerischem Vokabular und ihre Anwendung zur Inspirationsquelle. Das heißt, wir denken bei Tanz z.B. darüber nach, wie wir mittels Kleidung Bewegungen hörbar oder Musik durch tiefe Bässe fühlbar machen können. Neben der Erforschung solcher Ansätze geht es aber auch um einen kreativen Umgang mit den klassischen Hilfsmitteln der Barrierefreiheit selbst: Audiodeskription, Gebärdensprache oder Untertitelung werden kreativ im Kunstwerk mitgedacht. Sie werden also von ihrer Funktionalität gelöst und verwandeln sich in künstlerische Elemente, die für die Ästhetik und Dramaturgie des Kunstwerks wesentlich sind. Aus dem Werk heraus motiviert gehen sie von Anfang an eine ästhetische Einheit ein – also kein „Add-on“ oder „Übersetzung“, sondern als Werkzeuge des künstlerischen Ausdrucks. Dahinter steht die Überzeugung, dass Kunst zugleich komplex, subtil und für uns alle zugänglich sein kann, ohne an Qualität zu verlieren. Es ist also genau das Gegenteil einer Einschränkung und vielmehr eine Erweiterung des künstlerischen Vokabulars, da durch diesen Ansatz für Werk und Prozess neue Qualitäten hinzugewonnen werden.

Unter der schönen Überschrift „Barrierefreiheit ist mehr als Rampen und Aufzüge“ widmete sich kürzlich auch das Magazin „Die Deutsche Bühne“ Ihrem nächsten großen, über drei Jahre laufenden Projekt „Access Maker“. Was sind die Ziele und Meilensteine dieser Initiative?  

„Access Maker“ ist ein Modellprojekt. Wir beraten und begleiten seit April 2021 drei große Theater in NRW bei ihrem inklusiven Öffnungs- und Qualifizierungsprozess. Kulturschaffende und Expert:innen mit und ohne Behinderung unterstützen durch Workshops und Beratungen das Schauspielhaus Düsseldorf, das Theater Dortmund und die Comedia in Köln praxisbezogen und individuell nach ihrem Bedarf, ihr Angebot barrierearm – oder gar barrierefrei – zu gestalten. Dazu setzen wir in allen Bereichen der Kulturinstitutionen an: programmatisch, personell, in der Öffentlichkeitsarbeit und im Publikum.
Neben der kontinuierlichen Beratung der drei Theater finden im Rahmen dieses Projektes aber auch vier sogenannte Kreativ Labore statt, die offen sind für Kulturschaffende aus ganz Deutschland. Internationale Referent:innen und Expert:innen vermitteln in Vorträgen, Präsentationen und Workshops theoretische, methodische und praktische Grundlagen der inklusiven, künstlerischen Arbeit zu bestimmten Schwerpunktthemen. Aus den Ergebnissen dieser Seminare entstehen dann wiederum Handlungsempfehlungen, die anschließend bundesweit publiziert werden.
Es geht uns bei diesem Projekt um die Verstetigung barrierefreier Angebote und um eine umfassende, diversitätsorientierte Organisationsentwicklung in Institutionen, um die Kulturlandschaft strukturell und nachhaltig inklusiv zu verändern.

Was erschwert denn eigentlich den „Access“? Sowohl auf Seiten der Kulturschaffenden als auch auf Seiten des Publikums? Und wie können Zugänge ganz konkret erleichtert werden?

Die Barrieren in den Köpfen sind meiner Meinung nach das größte Problem, denn es herrscht Unsicherheit und Unkenntnis, was Inklusion in Bezug auf Menschen mit Behinderung bedeutet und welche Potenziale damit verbunden sind. Das Mindset von Kulturinstitutionen muss sich grundlegend verändern und Menschen mit Behinderung müssen als Kulturnutzer:innen und Akteur:innen erkannt und anerkannt werden. Ich bin davon überzeugt, dass keine Kultureinrichtung wirklich aktiv eine Gruppe von Menschen ausschließen will und dass die meisten von ihnen sich ihrer politischen und gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind. Es liegt nicht am mangelnden guten Willen, sondern an fehlendem Wissen, an mangelnder Erfahrung und an fehlenden Ressourcen.
Institutionell geförderte Kulturinstitutionen könnten z.B. eine Produktion weniger im Jahr produzieren und das eingesparte Budget in Inklusionsmaßnahmen investieren. Für Akteur:innen aus der freien Szene braucht es definitiv zusätzliche finanzielle Förderungen, damit sie überhaupt in die Lage versetzt und motiviert werden, inklusiv zu arbeiten. Denn man gibt leicht für eine Produktion 10–15.000 Euro nur für Barrierefreiheit aus, z.B. für die Einbindung von Gebärdensprachdolmetscher:innen, für Audiodeskription, barrierefreie PR etc. Dieses Budget muss bisher meist aus dem regulären Produktionstopf bezahlt werden. Wenn ich also inklusiv arbeite, habe ich weniger zur Verfügung als andere Akteur:innen, die es nicht tun, und dementsprechend einen Nachteil.  Es braucht also die Anerkennung von Barrierefreiheitskosten als notwendige Voraussetzung für Chancengleichheit seitens der Politik und der Fördernden.
Dann hört man oftmals von großen Kulturinstitutionen, dass sie ja gerne Künstler:innen mit Behinderung in die Ensembles aufnehmen würden, aber es keine Künstler:innen auf dem Markt gebe, die ausgebildet und willens sind. Da es im Bereich Tanz und Theater kaum staatliche Ausbildungsmöglichkeiten gibt, die zugänglich für Menschen mit Behinderung sind, drehen wir uns hier also im Kreis. Die Ausbildungsinstitutionen müssen sich also öffnen und ihre Curricula anpassen. Aber auch Kulturinstitutionen müssen die Rahmenbedingungen und Aufnahmebedingungen im Theater verändern, damit Kulturschaffende mit Behinderung motiviert und befähigt werden, in diesen Kulturinstitutionen zu arbeiten.
Von zentraler Bedeutung ist für mich aber, dass es nach wie vor zu wenig politische Rahmenbedingungen – also verpflichtende Forderungen und konsequente Maßnahmen – gibt, um Inklusion in der Kultur wirklich umzusetzen. Politik hat hier eine große Verantwortung und muss ihrer Verpflichtung nachkommen, damit dies in unserer Gesellschaft umgesetzt werden kann.

Anfang März laden Sie zum Access Maker Kreativ-Labor „Aesthetics of Access“ nach Remscheid ein. Wer sollte unbedingt dabei sein und warum? 

Kulturschaffende mit und ohne Behinderung von Theater- und Tanzhäusern und aus der freien Szene, die Lust haben, sich gemeinsam künstlerisch weiterzuentwickeln. Ganz egal, ob Dramaturgie, Regie, Choreografie, Intendanz, Vermittlung oder Technik – das Kreativ Labor wird für jedes Gewerk spannend sein, denn Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe und betrifft alle Bereiche in Kunst und Kultur.

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[1] Forschung: „Disability statistics – prevalence and demographics“ durchgeführt von Eurostat