Holger Jan Schmidt ist gelernter Diplom-Medienwirt und war Dozent an der Hochschule Fresenius in Köln und Düsseldorf. Als aktueller Generalsekretär von YOUROPE – The European Festival Association, einem Netzwerk der großen populären europäischen Musikfestivals mit mehr als 100 Mitgliedern aus 25 Ländern, gilt Holger Schmidt als einer der wichtigsten Netzwerker:innen der Musikfestival-Branche. Zu seinen Aufgaben gehört das Projektmanagement der internationalen Initiative und Kampagne „Take A Stand“ für die (Live-)Musikbranche, die 2017 ins Leben gerufen wurde, um u.a. den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern. Außerdem leitet er den paneuropäischen Think-Tank GO Group (Green Operations Europe), der sich auf Nachhaltigkeits- und Umweltfragen bei Veranstaltungen konzentriert.
Holger Jan Schmidt blickt auf mehr als zwanzig Jahre Mitarbeit beim RhEINKULTUR Festival in Bonn zurück, wo er von 1998 bis zur letzten Ausgabe des Festivals im Jahr 2011 in leitender Position tätig war. Er lebt in Bonn und ist vor allem als Booker, Berater und Teil des Management-Teams verschiedener Festivals tätig, darunter DAS FEST in Karlsruhe und das SUPERBLOOM Festival in München.
Holger Yan Schmidt
YOUROPE
Die Livemusikwirtschaft hatte wie kaum eine andere unter der Corona-Pandemie zu leiden. Für Sie als Generalsekretär von YOUROPE, wie ist aus Ihrer Sicht die aktuelle, vor allem wirtschaftliche Situation der Branche?
Tatsächlich gilt aufgrund meines Jobs mein Fokus vornehmlich dem internationalen Festivalsektor und hier vor allem den großen „popular music festivals “. Wir haben einen sehr besonderen Sommer hinter uns. Die Rückkehr nach zwei Jahren Zwangspause war ebenso emotional wie erschöpfend. Themen wie fehlende Arbeitskräfte, damit verbunden gestiegene Personalkosten und nicht verfügbare Infrastruktur haben die Budgets der Festivals sehr belastet. In der internationalen Umfrage, die wir im Rahmen unseres Europa-Projekts „3F – Future-fit Festivals“ mit etwa 160 Festivals aus 29 Ländern gemacht haben, zogen sich diese Herausforderungen weitestgehend durch alle Antworten. Hinzu kommen noch gestiegene Programmkosten wegen eines höheren Gagen-Niveaus. Dabei waren die Veranstaltenden weitestgehend zufrieden mit ihren Ticketverkäufen. Und doch hat eine sehr große Zahl die Ticketpreise in unterschiedlichem Rahmen angehoben, denn in der kommenden Saison gilt es zusätzlich auch noch mit Inflation, den gestiegenen Energiekosten und weiteren Folgen von Russlands Krieg in der Ukraine klarzukommen.
Noch bevor die Pandemie überstanden war, begann der Krieg in der Ukraine, was neben den humanitären Folgen eine weltweite Energiekrise nach sich zog. Über allem schwebt außerdem das Damoklesschwert der Klimakrise. Als ein stark auf Zusammenarbeit und bestimmten Werten basierendes Netzwerk, wie kann YOUROPE diesen multiplen Herausforderungen aktuell begegnen?
Was den Krieg betrifft, haben wir uns zuerst einmal direkt mit unserem ukrainischen Mitglied Atlas Festival in Kiew ausgetauscht und uns bemüht, deren humanitäre Initiativen zu unterstützen. Daraus sind auch einige tolle Hilfsaktionen seitens unserer Mitglieder mit den Aktiven in der Ukraine entstanden, auf die wir sehr stolz sein können. Wichtig ist nun, sicherzustellen, dass die Aufmerksamkeit nicht abreißt.Bei den weiteren Themen setzen wir insbesondere auf Austausch, Wissenstransfer und Weiterbildung. YOUROPE hat in seinen nunmehr knapp 25 Jahren Geschichte vor allem deshalb erfolgreich wirken können, weil unsere Mitglieder neugierig auf das sind, was die anderen tun, und gleichzeitig bereit sind, selbst ihre Erfahrungen zu teilen. Das gilt insbesondere für den Bereich Umweltverträglichkeit und Klimaschutz – federführend betreut von unserer GO Group (Green Operations Europe). Zudem haben wir das Thema fest auf unserer Agenda verankert. Es ist eines der Fokusthemen von 3F, und wir werden im kommenden Frühjahr als eines der Projektergebnisse die „Green Festival Roadmap 2030“ veröffentlichen, die Hilfestellung gibt, das eigene Wirken auf den European Green Deal, Klimaziele und die SDGs (UN Sustainable Development Goals) auszurichten.
Steigende Energiepreise, aber auch das Thema Klimafolgenanpassung stehen mehr denn je auf der Agenda von Festivalveranstalter:innen. Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit. Was sind Projekte, Innovationen oder Initiativen, die Ihnen für die Zukunft Hoffnung machen?
Mir ist wichtig, klarzustellen, dass das Thema und die damit verbundene Transformation eine Gemeinschaftsaufgabe sind. Das wird nicht eine für Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit zuständige Person im Team lösen können. Da werden alle ihren Teil leisten müssen, und dafür benötigt es in der Breite das nötige Fachwissen. Wir sind Teil eines großartigen Erasmus+ Projekts, das dabei helfen soll. Es heißt „Future Festival Tools“ und beinhaltet ein Self-Assessment für Veranstaltungen, einen E-Learning-Kurs und eine Zusammenstellung inspirierender Beispiele aus ganz Europa in den verschiedenen Aktionsfeldern der Festivalproduktion. Zudem macht es mir Hoffnung, dass dieses Thema nicht mehr ins Abseits manövriert werden kann. Alle Konferenzen und auch eine steigende Zahl von Festivals widmen sich wie selbstverständlich den aktuellen Herausforderungen, passen ihre Produktionen an, geben Aktivist:innen ein Forum. Es gibt zudem Fördertöpfe, die bei Innovation im Nachhaltigkeitsbereich helfen. Das Thema ist eines der Prioritätsthemen von Creative Europe.
Immer wichtiger für Veranstalter:innen, Spielstätten und Clubs sind neben CO2-Bilanzen und Abfallvermeidung Themen der sozialen Nachhaltigkeit wie Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Awareness. Wie kann es gelingen, die verschiedenen Aspekte von Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden, ohne das eine zu Lasten des anderen zu vernachlässigen?
Natürlich hat das entscheidend mit den Kapazitäten der jeweils Veranstaltenden zu tun, wie viel sie über das hinaus tun, was vorgeschrieben ist. Das betrifft ja im Nachhaltigkeitsbereich vieles. Tatsächlich wird hier aber natürlich auch vieles über die Nachfrage seitens der Besuchenden geregelt, der sich die Festivals kaum verschließen können. Ich glaube aber, dass vieles gemacht werden kann, das eben keinen finanziellen Mehraufwand bedeutet, sondern vor allem Umdenken und Veränderung bereits bestehender Strukturen. Wenn diese ersten Schritte gemacht worden sind, ergeben sich sehr oft die weiteren von selbst. Und auch hier: Man muss nicht alle Lösungen selbst erfinden. Erfahrungsaustausch unter Gleichgesinnten hilft ungemein. Fehler, die jemand anderes bereits gemacht hat, muss ich nicht selbst wegen Unwissenheit auch machen. Guten Vorbildern nachzueifern, ist definitiv keine Schwäche!
In 2022 in aller Munde war ein weiteres drängendes Problem, das insbesondere die Livemusikbranche betrifft: der Fachkräftemangel. Welche Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach nötig, um dem Mangel entgegenzuwirken?
Dafür habe ich auch kein Wundermittel parat, aber wir müssen sicherstellen, dass unsere Branche attraktiv ist für Seiteneinsteiger:innen und den Nachwuchs. Da müssen wir sicherlich ein Hauptaugenmerk auf die Arbeitsbedingungen legen, die aus verschiedenen individuellen Gründen vielleicht nicht attraktiv genug sind, dass die Menschen, die die Branche verlassen haben, zurückkehren. Ich weiß, dass das einfacher gesagt als getan ist – gerade nach der Pause, einem Jahr voller Herausforderungen und vor einem weiteren, das nicht unbedingt leichter zu werden verspricht. Es gibt Kolleg:innen in unserem Verband wie bspw. Lowlands und Down The Rabbithole in den Niederlanden, die entsprechende Aus- und Weiterbildungsangebote entwickeln und damit ihr Recruiting bereichern. Und es löst den Mangel sicherlich nicht mittelfristig, aber es gibt auch Projekte, die die ukrainischen Expert:innen, die sich wegen des Krieges derzeit im Ausland aufhalten, mit Suchenden zusammenbringen. Eines davon ist ARTery und wurde vom ukrainischen Music Export Office gemeinsam mit den Festivals Pohoda (Slowakei) und ARTmania (Rumänien) initiiert.
Sie sind Co-Autor des Buches „stay SOUND & CHECK yourself“, das sich mit Stress und psychischer Gesundheit in der Livemusik-, Festival- und Eventbranche beschäftigt. Was hat Sie veranlasst, diesem Thema ein ganzes Buch zu widmen?
Mit diesem Thema könnten wir jetzt ein ganzes Interview füllen, aber ich versuche, es kurz zu halten. Wenn man selbst einmal die Erfahrung gemacht hat, dass die mentale Gesundheit leidet und wie sie den Job beeinflusst, wird einem schnell klar, wie wichtig das Thema ist. Wie viele andere habe ich vorher nicht darüber nachgedacht und fand, es ist ein wichtiges Thema – aber natürlich vor allem für die, die sich damit rumschlagen müssen. Hätte ich mich damit intensiver befasst, hätte ich in der Situation, als es mich selbst betraf, deutlich besser reagieren können. Diese Erfahrung möchte ich gerne weitergeben und auch denjenigen, die sich mit diesen Herausforderungen konfrontiert sehen, zeigen, dass sie damit nicht alleine sind. Ich selbst habe schnell herausgefunden, wie wenig einzigartig ich mit meinem Problem war und bin. Es gibt wirklich viele Kolleg:innen, die diese Herausforderung teilen und meistern. Wir können zusammen dafür sorgen, dass erstens das Thema aus der Schmuddelecke kommt, wo es definitiv nicht hingehört – wenn jemand beim Bühnenbau einen Ermüdungsbruch hat, schaut ja auch keiner pikiert. Und wir können zusammen dafür sorgen, dass das Umfeld, in dem wir arbeiten, unseren individuellen Bedürfnissen entgegenkommt, damit wir nicht noch mehr Qualität, Kreativität und Expertise verlieren. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass sich der Mensch dem System anpassen muss, wenn man das System verbessern kann und es so für die Menschen erträglicher wird und die Branche damit besser macht.