20. 12. 2020
creative.talk

Bernd Fesel
European Creative Business Network

Bernd Fesel arbeitete unter anderem als Berater für die Deutsche UNESCO Kommission sowie das Auswärtige Amt und organisierte die erste Kreativwirtschaftskonferenz in Berlin. Er war stellv. Direktor für die Europäische Kulturhauptstadt RUHR.2010, von 2011 bis 2019 war er Seniorberater für die Nachfolge-Institution, das european centre for creative economy in Dortmund. Fesel ist Lehrbeauftragter für Kreativwirtschaft an der KMM Hamburg und seit 2017 Vorsitzender des European Creative Business Network (ECBN), das sich für die Interessen der Kreativwirtschaft in den europäischen Institutionen in Brüssel einsetzt. Dabei fokussiert das Netzwerk mit seinen 140 Mitgliedern aus 28 Nationen die Stärkung von Innovationspolitik und -programmen für die Kreativwirtschaft. Seit 2012 veranstaltet das ECBN den zentralen jährlichen Summit zur Kreativwirtschaft Europas, den European Creative Industries Summit. Im CREATIVE.Talk zieht Fesel Bilanz aus dem COVID-19-Krisenjahr und berichtet, wie die europäische Kreativwirtschaft mit der Situation umgegangen ist und was es für einen nachhaltigen Neustart braucht.

EDIT: Seit 2022 ist Bernd Fesel Interim Chief Executive Officer von EIT Culture & Creativity, eine Initiative des Europäischen Instituts für Innovation und Technologie (EIT), einer Wissens- und Innovationsgemeinschaft zur Stärkung und Umgestaltung der europäischen
Kultur- und Kreativsektoren und -industrien.

Das Corona-Krisenjahr neigt sich dem Ende. Wie ist Ihre Bilanz für die Kultur- und Kreativwirtschaft aus europäischer Perspektive? Sind die Auswirkungen auf die Branche überall gleich, oder gibt es Unterschiede?

Das Jahr 2020 geht zu Ende, die COVID-19-Krise bei Weitem nicht – die zweite Welle der Pandemie lässt eines der schlimmsten Szenarien wahr werden, die das European Creative Business Network zu Beginn des Jahres aufgrund von tausenden Fragebögen im White Paper „Breaking out of the COVID-19 Crisis“ veröffentlicht hat – genannt: „Return Near to Impossible“. Dieses Szenario 4 basierte im März 2020 auf der Annahme, dass die Wiedereröffnung der lokalen Betriebe – ob Theater, Kinos, Club, Buchläden, Festivals – im Dezember nicht möglich sein würde. Das galt damals als pessimistische, ja unrealistische Annahme – was für ein Trugschluss! Weiterhin wurde angenommen, dass der digitale globale Vertrieb von Kulturprodukten zwar steigt, doch die Einnahmen daraus nicht den Kulturproduzenten, sondern dem digitalen Vertrieb, im globalen Maßstab der Plattform-Ökonomie, zugutekommen. Dadurch entsteht eine doppelte Falle – weder lokale noch globale ausreichende Einnahmen zehren die Reserven der Kultur- und Kreativbetriebe so weit auf, dass Investitionen zur Wiedereröffnung kaum finanziert werden können. Wenn zudem zusätzlich kein Ausblick auf eine zuverlässige Nachfrage von Kunden gegeben ist – weil es zum Beispiel immer wieder zu unvorhersehbaren Lockdowns kommen könnte –, dann gibt es auch für den Einzelbetrieb kaum eine ökonomische Kalkulationsbasis zu öffnen.

Die einzige Rettung für eine Kultur-Gesellschaft ist jetzt, dass die überwiegende Mehrheit der Akteur:innen – ob Kulturproduzent:innen oder -vermittler:innen – nicht aus ökonomischen Gründen Kunst und Kultur machen, sondern um der Sache willen: Weil Kultur ihr Leben ist – so wie Sport das Leben von Sportler:innen ist. Das ist die Bilanz des COVID-19-Jahres 2020 – und diese zieht sich durch alle Nationen.

Kreative reagieren auf Krisen oftmals mit innovativen Lösungen. Welche Best-Practice-Beispiele aus Europa haben Sie besonders beeindruckt?

Not macht erfinderisch – das sagt schon der Volksmund. In dieser COVID-19-Krise gilt der Dank und das Gedenken aller Künstler:innen und Kreativen in Europa zunächst den Ärzt:innen und Pfleger:innen und ihren innovativen Lösungen angesichts fehlender Masken oder Beatmungsgeräte – das muss ich angesichts der Toten in Bergamo, in ganz Europa, in Deutschland und auch in NRW zuerst sagen. In dieser Existenzkrise haben viele Künstler:innen und Kreative die verschiedensten Beiträge geleistet – und auch innovative, aber darauf sollte man eine der größten Wirtschaftsbranchen Europas, die 12 Mio. Menschen und Familien Einkommen und Zukunft gibt, nicht reduzieren.

Die Europäische Union hat auf Initiative von EU-Kommissarin Mariya Gabriel in nur wenigen Wochen die EU-Plattform Creatives Unite geschaffen. Hier findet man eine Übersicht aus ganz Europa – es erscheint mir fast unfair, ein Beispiel herauszugreifen, doch eines sei stellvertretend genannt: Kuvertura – rund 1.000 Buchliebhaber:innen unterstützen durch ein Gamesspiel ihren lokalen Buchladen. Ein Beispiel mit einer speziellen Struktur, die ein großes Zukunftspotenzial für die Kreativwirtschaft sowie den Einzelhandels insgesamt aufzeigt: eine neue Verbindung von digital und lokal, die mehr Bürger:innen und Kund:innen nützt als Plattformen und Tech-Giganten.

Gibt es im Umgang mit der Krise in Bezug auf die Kultur- und Kreativwirtschaft auch auf institutioneller oder politischer Ebene beispielhafte Vorgehensweisen?

Zu Beginn der COVID-19-Krise war Wirtschaftspolitik wie Kulturpolitik oft überrascht und nicht selten überfordert vom Berufsmodell vieler Akteur:innen in der Kreativwirtschaft: Der Solo-Selbstständigkeit. Sie wird in amtlichen Statistiken auch als atypische Beschäftigung bezeichnet – und so fühlten sich viele Millionen Kulturakteur:innen auch von der Politik behandelt. Es gab und gibt lobenswerte Ausnahmen – im Land NRW sei nur ein Beispiel von vielen genannt: das Stipendienprogramm „Auf geht’s!“ für freischaffende Künstler:innen. Bis zum 1. Oktober 2020 sind rund 12.900 Stipendien in Höhe von jeweils 7.000 Euro abgerufen worden – ein Programm mit einem Gesamtvolumen von rund 105 Mio. Euro.

Beispielhaft sind jedoch nicht nur Förderungen, sondern auch die innovative Weiterentwicklung politischer Strukturen und Lehren aus dieser Krise: So fordert die Creative Industries Federation in UK eine „Freelance Commissioner and Future Workforce Commission“, einen Regierungsbeauftragten für Solo-Selbstständige. Innovationen in Politik und Verwaltung sind mindestens so wichtig für die Bewältigung der Krise wie finanzielle Hilfen – auch hier kann die Bundesregierung noch besser werden.

Im Oktober 2020 fand der 10. European Creative Industries Summit unter dem Motto „Framing Creative Futures“ statt, dem fünf themenbezogene Online-Breakout-Sessions vorangegangen waren. Können Sie die wichtigsten Erkenntnisse und Ergebnisse kurz skizzieren?

In einem Satz gesagt: Innovationen der Kultur- und Kreativwirtschaft sind unverzichtbar für einen nachhaltigen Neustart, nicht bloß für einen Wiederaufbau von Wirtschaft und Gesellschaft nach der COVID-19-Krise – welche Innovationen das genau sind, wurde in den Breakout-Sessions für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Bildung, Verwaltung, Innovation und Resilienz anhand von Thesenpapieren online diskutiert. Wie lernt eine Verwaltung bürgernäher, schneller und kostengünstiger zu sein? Wie muss Bildung in einer Zeit aussehen, in der die Berufe, die in zehn Jahren nachgefragt werden, heute noch nicht oder und nur schwer vorauszusehen sind? Wie funktionieren Innovationen, die mehrere Branchen übergreifen, nicht-technisch und technologisch wirken und ganze Wirtschaftsbranchen transformieren – wie in einer Smart City, die aber auch die Bürger:innen durch kreative Partizipation ins Zentrum stellen.

All dies kann ohne Leistungen der Kreativwirtschaft nicht gelingen – Leistungen, die trotz – oder wegen? – alltäglicher Präsenz oft unsichtbar scheinen. Jedes Mal, wenn Sie eine App öffnen, jedes Mal, wenn Sie Nachrichten oder Filme sehen, jedes Mal, wenn Sie ein Kleidungsstück suchen, das nachhaltig ist, in einer Online-Konferenz sind – it is all creative industries.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit dem „neuen Europäischen Bauhaus“ eine kreative und interdisziplinäre Bewegung ausgerufen, die Design und Nachhaltigkeit miteinander verbindet. Sie soll sich als treibende Kraft mit dem European Green Deal auseinandersetzen und damit zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen. Welche Bedeutung hat dieses Projekt für das Ansehen der Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa?

Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer State-of-the-Union-Rede am 16. September 2020 in nur zwei Zeilen vom European Bauhaus sprach, ahnte sie wahrscheinlich nicht, welche Kraft diese Idee entfalten würde – denn zu dem Zeitpunkt war dafür nicht einmal eine Budgetierung vorgesehen. Davon unbeirrt fand das European Bauhaus europaweit Resonanz. Man könnte sagen: Diese Debatte hat stark dazu beigetragen, dass der European Green Deal viral ging. Ein herrliches Beispiel für die gesellschaftliche Transformationskraft von Kultur und Kreativität – noch bevor ein einziger Euro ausgegeben wurde. Das tut dem Ansehen von Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa sicherlich gut – doch wichtiger ist die zentrale Bedeutung für das Gelingen des European Green Deals. Das ist für uns alle die Lehre: Der European Green Deal braucht die Kreativwirtschaft. Jetzt müssen wir daran arbeiten, wie Innovationen der Kultur- und Kreativwirtschaft konkret zur „großen grünen Transformation“ beitragen können – dazu werden viele 100 Mio. Euro in den nächsten Jahren in die kreative Nachhaltigkeit von Mobilität, Bauen, Tourismus, Energie, aber von Kulturinstitutionen selbst investiert werden; das European Bauhaus ist der Anfang – und was für ein Anfang: Glückwunsch an EU-Kommissionspräsident von der Leyen!

Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit kreative Köpfe und Unternehmen gut durch das wohl weiterhin krisengeprägte Jahr 2021 kommen? Was sind Ihre Wünsche und/oder Hoffnungen für die Zukunft?

Die Politik in Europa hatte in den letzten Monaten oft eine steile Lernkurve, ob im Wirtschafts- oder Kulturressort. Es sind neue intensive Dialoge in der Krise entstanden, die es vorher so nicht gab – zum einen innerhalb der Politik: Kulturminister:innen, die das Unternehmertum in der Kunstwelt entdeckten; Wirtschaftsminister:innen, die für den Wert öffentlicher Kulturinstitutionen einstanden, zum anderen aber auch zwischen Politik und Kultur- und Kreativwirtschaft. Während zu Beginn der COVID-19-Krise zwischen Politik und Kreativwirtschaft öfters von Vorwürfen und Unverständnis gesprochen wurde, sind jetzt – Schritt für Schritt, in verschiedenen Geschwindigkeiten – gegenseitiges Verständnis, Respekt und Anerkennung gewachsen.

Auch zwischen den EU-Mitgliedsstaaten sind neue Dialoge entstanden: Zum Teil werden Wirtschaftspolitiken für Kunst und Kultur aus dem Ausland entdeckt und für das Inland angepasst übernommen. Meine Hoffnung: Diese Vertrauensbasis nutzen, um nicht das Bisherige zu restaurieren, sondern mit Innovationen neue Wege in der Kreativwirtschaft gehen, die ohnehin anstanden und im Boom und Erfolg der Märkte vertagt wurden – das reicht von neuen Geschäftsmodellen für Buchläden und Live-Konzerte bis zu nachhaltigerem Bauen oder Tourismus. So schwer es angesichts der hohen Zahl an Toten fällt zu sagen: Die Krise zur Chance zu machen, das liegt an jedem einzelnen Menschen.

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