20. 4. 2020
creative.talk

Aat Vos
aatvos BV

Im Laufe seiner mehr als 30-jährigen Erfahrung im Bereich Bibliotheksdesign hat der Creative Guide und Architekt Aat Vos eine einzigartige Sicht auf öffentliche Räume entwickelt. Der Niederländer engagiert sich europaweit als kreativer Berater für die Umgestaltung von Bibliotheken, Theatern, Kulturhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen. In Zusammenarbeit mit Anwohner*innen und Mitarbeiter*innen hebt er diese Orte auf ein ganz neues Level und transformiert sie in „Dritte Orte für jedermann“, die lokale Communities aktivieren und fördern. In seinen Workshops und Vorträgen bringt Vos Licht ins urbane Dunkel, bietet innovative Lösungen für den öffentlichen Raum und vermittelt die Gestaltung Dritter Orte als praktischen Lösungsansatz für reale gesellschaftliche Herausforderungen. Zu seinen inspirierendsten Projekten gehört u.a. die Stadtteilbibliothek in Köln-Kalk.

Foto: © Marco Heyda

Herr Vos, die Gestaltung von öffentlichen Räumen, sogenannten „Dritten Orten“, steht im Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Wodurch zeichnet sich ein solcher Dritter Ort aus und warum ist er so wichtig? 

Nach der Definition des amerikanischen Stadtsoziologen Ray Oldenburg sind Dritte Orte – nach dem eigenen Zuhause als „Erstem Ort“ und dem Arbeitsplatz als „Zweitem Ort“ – öffentliche Orte, Räume der Gesellschaft. Sie sind offen, für jedermann zugänglich, gratis zu nutzen, Orte, wo man alleine hingehen kann, wo man sich auskennt, wo man deinen Namen kennt und wo man selber eine Rolle spielen kann. Orte, die man für sich in Besitz nehmen kann. Sie sind wichtig, weil wir – in den Worten des deutschen Philosophen Jürgen Habermas – die Öffentlichkeit für die öffentliche Debatte über öffentliche Angelegenheiten brauchen. Sie formen unsere Meinung und sind damit eine Medizin der Demokratie.

Bei der Gestaltung werden Menschen verschiedenster Disziplinen und vor allem auch die jeweiligen lokalen Akteure mit einbezogen. Wie wichtig sind solche Netzwerke für diese kreative Arbeit?

Unglaublich wichtig. Wir arbeiten am liebsten mit lokalen Akteur*innen, lokalen Fachleuten, Künstler*innen und Handwerker*innen zusammen. Nur so kann ein Ort wirklich ein lokaler Ort werden, mit einer eigenständigen, einzigartigen Identität. Nur ein lokaler Akteur kennt sich richtig aus, kennt die lokale Geschichte und den Hintergrund eines Ortes, fügt diesen Lokalkolorit oft unbewusst seiner Arbeit hinzu – und macht den Ort damit nur stärker. Und natürlich aktivieren sie weitere Akteur*innen, die sich dann ebenfalls engagieren. Leider macht das Ausschreibungsverfahren es oft unmöglich, gezielt mit lokalen Akteur*innen zu arbeiten, aber wir versuchen es jedes Mal.

Zurzeit befinden wir uns in der besonderen Situation, dass gerade diese öffentlichen Gemeinschaftsräume nicht zugänglich sind und sich die Menschen zwangsläufig in ihre eigene Lebensblase zurückziehen müssen. Was bedeutet das für das soziale Miteinander?

Wir sind Menschen, und Menschen sind wie Wasser. Wir werden Wege finden, einander zu treffen, uns auszutauschen. Das sehen wir jetzt auch in der Corona-Krise. Leute spielen Balkon-Bingo, singen gemeinsam aus dem Fenster, machen gemeinsam Musik und treffen sich natürlich digital. Wir sind eine unglaublich widerstandsfähige Spezies. Ich glaube, dass wir genau in dieser Zeit, durch die Notwendigkeit von Einschränkungen, bemerken, wie wichtig es ist, uns live zu treffen: Zusammen zu sein, einander berühren zu können, eine Veranstaltung gemeinsam zu genießen. Ich denke, wenn diese Krise eines klar macht, ist es, dass wir wirklich soziale Orte zum Austausch unserer Menschlichkeit brauchen.

Glauben Sie, dass physische Dritte Orte und die zwischenmenschliche Interaktion nach der Krise mehr Wertschätzung erlangen?

Ja. Wir werden sie – wenn die Krise hinter uns liegt – mehr denn je umarmen. Und wir werden feststellen, dass wir neue Netzwerke entwickelt haben, mit Leuten, die sich bereits digital kennengelernt, aber noch nicht live getroffen haben. Ich erwarte emotionale Szenen, die an die wiedergewonnene Freiheit nach einem Krieg erinnern. Aber nicht nur das: Wir müssen uns bewusst machen, dass soziale Orte außerhalb des Hauses für einige von uns auch ein Zufluchtsort sind und dass diese Orte eine Sicherheit bieten, die das eigene Zuhause nicht bieten kann. Das sind die beunruhigenden Fälle in dieser Krise.

Das Digitale erhält in der Corona-Krise einen besonders hohen Stellenwert. Kann man auch digitale Räume gestalten? Und wie kann das aussehen?

Das Interessante an dieser Zeit ist, dass wir gezwungen sind, unseren ersten Ort (unser Haus), unseren zweiten Ort (unseren Arbeitsplatz) und den dritten Ort (den sozialen Treffpunkt) miteinander zu kombinieren. Jeder von uns hat jetzt einen Crashkurs in Zoom, Webex, Jitsi, Skype oder Teams absolviert. Dies gibt uns einen wunderbaren Einblick in die häusliche Situation des anderen, was seltsamerweise trotz des Abstands zu einer neuen, niedrigschwelligen Art von Verbindung führt. Dies bringt uns näher zusammen, als man vielleicht denken würde. Mir fällt auf, dass ich bestimmte Orte im Haus lieber für Geschäftsgespräche nutze und andere lieber für den digitalen Biermoment mit meiner Band. Es erinnert mich an das Nomadenbüro von Ettore Sottsass, wo er für jedes seiner Projekte in einem separaten Raum einen Arbeitstisch mit einer eigenen Identität erstellt hat. Dies schafft digital-analoge Orte mit ihrem eigenen Gebrauch, ihrer eigenen Identität, ihrer eigenen Intimität und ihrer eigenen Interaktion.

(Kreativ)Netzwerke wie die von uns ausgezeichneten CREATIVE.Spacesagieren in physischen wie auch digitalen Räumen und vernetzen unterschiedliche Branchen, auch über die Kreativwirtschaft hinaus, miteinander. Welche Tipps haben Sie für diese Akteure – während und nach der Krise?

Wenn ich an meine eigene Ausbildung denke, an den Kokon, in dem Architektur als „Mutter aller Künste“ bezeichnet wurde, und an die Art und Weise, wie ich 25 Jahre lang damit umgegangen bin, wünschte ich, dass ich verstanden hätte, dass Architektur nur ein Kommunikationsmittel ist, ein Teil in einem Kaleidoskop aus Wort, Musik, Logik, Raum, Bild, Zeit, Bewegung und inner- und zwischenmenschlicher Interaktion. Alles gehört zusammen, und Designer brauchen Bescheidenheit und gute Ohren. Wir dürfen niemals vergessen, für wen wir arbeiten. Und wir sollten niemals glauben, dass wir es wissen. Lassen Sie mich mit den Worten von Steward Brand schließen, dem amerikanischen Freidenker, Visionär und Autor, der auf der letzten Seite des letzten Whole-Earth-Katalogs das in Auftrag gab, was Steve Jobs später erkannte: „Stay Hungry, Stay Foolish“.

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