Stefan Reichmann ist Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter von Haldern Pop. Die Marke steht unter anderem für das 1984 gegründete und weit über die Ländergrenzen hinaus bekannte Haldern Pop Festival in einem Dorf am Niederrhein. Das 2009 gegründete Haldern Pop Haus beheimatet das gleichnamige Label, einen Plattenladen und Live-Club und ist Treffpunkt für Kreative, Unternehmer:innen und Dorfbewohner:innen. Für sein Engagement als Kreativnetzwerk wurde es von CREATIVE.NRW als CREATIVE.Space 2020 ausgezeichnet. Haldern Pop ist Protagonist in der zweiten Folge der Filmreihe „Die Gamechanger – Kreative Orte, kreative Lösungen“. Darin stellt CREATIVE.NRW gemeinsam mit der Montag Stiftung Urbane Räume und dem Verein KLuG e.V. kreative Akteur:innen aus Nordrhein-Westfalen vor, die unter den erschwerten Bedingungen während der Corona-Pandemie innovative Lösungen gefunden haben, um die eigene kreative Arbeit weiterzuführen und die Leute daran teilhaben zu lassen. Im creative.talk berichtet Stefan Reichmann über seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Pandemie-Jahr, die Besonderheiten des musikkulturellen Landlebens und die Bedeutung von Beziehungen und des Weitermachens.
Wie haben Sie und Ihr Team auf den ersten Lockdown im März 2020 reagiert, und was ist in der Folge bis heute entstanden?
Wir haben erstmal komisch geguckt, dann habe ich mich in die arbeitslose Bar gesetzt, um diese ungewöhnliche Situation in einem Tagebuch in Worte zu fassen – was sie mit uns macht und was wir jetzt tun können. Es liegt ein bewegendes Jahr hinter uns, zum Glück haben wir es dokumentiert und nicht aufgehört zu erzählen, mal direkt, mal subtil, und versucht, Zuversichtliches ins Auge zu fassen. Bei Hausarrest rückt die weite Welt erstmal in den Hintergrund, man läuft selber durchs Bild, das Naheliegende wird das Mögliche, und die Selbstverständlichkeit der Routine setzte aus. Improvisation war gefragt. Wir haben diskutiert, sind durch Keller, Dachböden und unsere Kindheit geklettert, haben das Regionale und Kleine mehrfach umgegraben, ausgewrungen und schätzen gelernt. In einem Glas selbstgemachter Marmelade steckt mehr als Früchte und Zucker – das haben wir von den Großeltern gelernt. Dinge möglich machen, in Kontakt bleiben und nicht untergehen, das waren die treibenden Gedanken. Ich schrieb ein zweites Tagebuch, mit fiktiven Geschichten und bunten Zeichnungen über Dinge, Tiere und Menschen unseres Dorfes, eine neue Version des „Schwarzen Peter“-Kartenspiels mit dem Namen „Helle Petra“ wurde daraus raffiniert. Die Not machte erfinderisch, unsere 37-jährige Geschichte ist belastbar, hat Vertrauen angesetzt und unterstützt uns dabei, neues Terrain zu betreten, um uns dadurch zu navigieren und teilweise neu zu erfinden. Zurück zur Frage: 2 Tagebücher, 1 Festival als Kulturbrücke zur Westküste Irlands, als digitaler Livestream, 3 x Applaus aus Leipzig, Berlin und Düsseldorf für unsere ausdauernde Kulturarbeit auf dem Land, Wunderpakete, Bilderbücher, Schallplatten, Kartenspiele, Spaten, Hocker, Frühstücksbrettchen und behutsame Verkäufe aus unserem Archiv.
Nach einem Jahr Leben mit der Pandemie – können Sie die vielbeschworene „Krise als Chance“ bestätigen? Welche positiven Erkenntnisse können Sie für sich und Haldern Pop, aber auch für Kreative generell mitnehmen?
Das Naheliegende ist uns fremd geworden: Wenn sich unser Nachbar beim Holzhacken vom Ringfinger trennt, ist das Schicksal, wenn in St. Tropez eine Cola 12 Euro kostet, inhalieren und kategorisieren wir diese Nachricht wie selbstverständlich. Ich blicke auch mit einer großen Demut auf diese Zeit zurück und nach vorn. Es gibt viele Menschen, denen es nicht so ergangen ist wie uns. Unser aus der Zeit gefallener Pop-Organismus hier in Haldern scheint sich zu einem gesunden und sorgsamen Ganzen gefügt zu haben. Diese vielen gemeinsamen Momente und Geschichten haben sich zu einer vertrauten Dichte formiert, gleichberechtigt durch die Künstler:innen, Besucher:innen und uns selbst, wurde dieser Ort zu einer sozialen Skulptur. In diesen Zeiten zeigte sich ein Geist von erstaunlicher Aufmerksamkeit, Solidarität und Unterstützung, um dieses langfristig verdichtete Milieu überleben zu lassen. „Das sind wir, zwischen dem Spaten und den Bratkartoffeln: Machen wir was daraus!“ Es war wichtig, in diesen unruhigen Zeiten, den Kontakt zu all den Menschen zu erhalten, denen unsere Arbeit nicht egal ist, den Mut und die Zuversicht zu dokumentieren, sich auszuprobieren und auch weiterhin zu experimentieren. Neue Wege können auch mit den alten Zielen begangen werden. Die Zeit nutzen, um die eigentlichen Gründe zu entstauben, sich bewegen und nicht in der Erwartung verharren. Das Wesentliche unserer Arbeit, die Menschen, Orte und Lieder mit- und zueinander in Beziehung zu setzen, war und ist weiterhin unser Anspruch.
Aufhänger für Ihr hybrides Livestream-Event aus dem irischen Dingle und Haldern am Niederrhein, Other Voices X Haldern Pop, am 7. August 2020 war das Motto „Jetzt reden die Dörfer mit Europa“. Worüber genau reden sie, und wobei können Ihrer Meinung nach gerade die Dörfer der EU weiterhelfen?
Etwas pflanzen, pflegen und ernten ist in unseren Dörfern ein verständlicher und existenzieller Rhythmus, ein Ritual, mit dem man aufwuchs. Ich sehe noch heute Oma Ingenhorst, Erbsen döppend im Schatten der alten Walnuss. Ihre Ausstrahlung hatte diesen gechillten Flow, wie man heute sagen würde, nur dass am Ende diese wunderbaren Erbsen auf dem Tisch lagen und keine Yogakurs-Rechnung. Ein Zeugnis bewegender Unternehmung auf kleinsten Spielfeldern, den Dörfern. Ihr ausstrahlender Gleichmut schien sich vom Alltäglichen zu speisen, diese Taktung von Tun, Fühlen und Dasein schlich durch unsere Dörfer, und die Zusammenkünfte und Feste wurden zu den bewegenden und wieder zusammenführenden Fixpunkten des Lebens. Das, was uns am Ende des Tages verbindet, sind nicht selten die tongewordenen Geschichten, um nach der werktäglichen Reibung wieder das Gemeinsame zu spüren. Diese Erkenntnis kann man als kulturellen Prozess umschreiben: die Musik als Verbindung des großen Ganzen, als vertrautes Versprechen, sich all diese Dinge zu teilen, das Gefühl füreinander und nicht den Wettbewerb mit ins Bett zu nehmen. Bei all den Entwicklungen unserer Zeit, wie dem Klima, dem Brexit, aber auch der aktuellen Pandemie, erkennen wir die Brüche in den sensibelsten sozialen Organismen, Verständnislosigkeit zwischen den Generationen und eine dynamisierende Polarisierung, die uns in Europa auseinandertreibt. Wir neigen dazu, diese Dinge mit einem Satz vom Tisch zu wischen und träumen vom großen Wurf. Uns scheint, dass die Regeneration der Balance von Jung und Alt, Klein und Groß, Energie und Erfahrung wieder im Kleinen und Übersichtlichen vollzogen werden muss. Es muss wieder wachsen, man muss sich kümmern, es will gepflegt sein, um es wieder teilen und verbreiten zu können. Im Schutz dieser Dörfer lauert die Geduld: Sie hilft uns, Gründe zu spüren und die Verbundenheit als Schlüssel zum Erfolg zu verstehen. Musik baut keine Autos, döppt keine Erbsen und macht uns auch nicht das Frühstück. Musik ist die teilende Schwingung, der verbindende Wohlklang unserer gemeinsamen Kultur, eine zuversichtliche Korrespondenz aus gestern für morgen mit der gelebten Energie von heute. Vielleicht ist die Zukunft ja klein.
Im Rahmen des von der BKM geförderten Projekts KreativLandTransfer wurde Haldern Pop als kultur- und kreativwirtschaftliches Best-Practice im ländlichen Raum ausgewählt. Das Konzept ist mittlerweile online und umfasst 35 Seiten. In ein paar Sätzen: Was ist das Wichtigste, das Sie potenziellen Nachahmer:innen mit auf den Weg geben würden?
Eine sehr komplexe Frage, ich werde versuchen, es einfach zu beantworten. Eine wesentliche Erkenntnis unserer fast 40 Jahre ist die Tatsache, dass das Aufregende im Leben zwischen den Dingen passiert und nicht in ihnen, dass die Menschen oft jeder für sich ein Puzzleteil des Ganzen in sich tragen und man zueinander finden muss, dass Gastfreundschaft ein sorgsamer Schatz ist und auch als Ressource bezeichnet werden darf und dass Aufmerksamkeit ein Gut und sensibel zu pflegen ist. Haldern Pop ist eine soziale Reaktion von Fähigkeiten, Eigenarten und menschlichen Mentalitäten. Nie fehlerfrei, manchmal unberechenbar, aber stets versucht, Ängste in Vertrauen zu verwandeln und gemeinsame Zuversicht zu entwickeln. Wir lieben die Zeit zwischen dem Pflanzen und dem Pflücken, und das Kompott lieben wir auch. All diese Begegnungen, die vielen Interessen, das Überreden, den Wahnsinn, das Schwitzen, das Zittern und das Schreien muss man erlebt haben, in Erfahrung bringen und lernen. Mir waren die Arbeiten des Soziologen Hartmut Rosa damals noch nicht bekannt, ich stelle aber fest, dass seine Analysen sich mit unserem instinktiven Weg teilweise decken: sich mit dieser Welt zu reiben, mit ihr in Kontakt zu treten, um teilzunehmen. Die Verfügbarkeit der Welt, so wie Rosa das heute beschreibt, ist im Grunde die Ohnmacht der Möglichkeiten. Da sitze ich mit der Sonne auf der Bank, aus dem scheinbaren Nichts umarmt mich die Wärme, Gedanken fangen an zu spazieren, die Gabe zur Aufgabe, ein persönlicher Moment, kein Plan. Unseren Kindern drücken wir Mandalas in die Hand, auf einem weißen Blatt Papier läuft unsere Erwartung Gefahr, enttäuscht zu werden, ein bisschen bunt für alle nennt man ergebnisorientiert und gerecht. In Hessen will man den Hauptschulen den Kunstunterricht streichen, diese Form von kultureller Ignoranz offenbart die Kapitulation durch ein durch und durch rationales Verständnis von der menschlichen Existenz. Unser emotionaler Umfang wird durch Kontrolle beschnitten, eine vertretbare Praxis aus der Medizin, bei unseren Kindern nenne ich das Vertrauensverlust. Die industriellen Optimierungsprozesse der Vergangenheit haben nicht selten den Menschen ihren identitätsbildenden Handlungsraum genommen, Entscheidungen zu treffen, weil Fehler keine Option in diesem Geschäft waren. Das Leben grundsätzlich als Geschäft zu verstehen, ist der Ursprung eines Missverständnisses und ein Grund einer sich bahnbrechenden extremistischen Tendenz und Taubheit. Vielleicht ist es die wertvollste Erkenntnis dieser Zeit, dass uns die Kunst des Lebens nie aufhört, Fragen zu stellen, und die Kultur das Vertrauen entwickelt, um uns die Angst zu nehmen, zu antworten und in lebendiger Resonanz zur Welt zu stehen. Es geht um das ehrliche Verhältnis zur Welt, es geht um jeden Einzelnen im resonanten Verhältnis zum Ganzen.
Als Festival- und Konzertveranstalter, Label und Plattenladen ist Haldern Pop Teil der Musikwirtschaft und besetzt gleich mehrere Rollen in der Wertschöpfungskette. Konnten Sie während der Corona-Krise Bedeutungsverschiebungen der einzelnen Teilbereiche feststellen? Werden z. B. mehr Platten gekauft, wenn es keine Konzerte gibt?
Das kennen wir vom Fußball: Wer beidfüßig schießen kann, ist durchaus im Vorteil. Unser Label ist in der Lage, geschäftig zu sein, unsere Bar, die Festivals und auch der Shop müssen wühlen, um nicht in Vergessenheit zu geraten, und müssen mögliche Verkäufe auf dem Postweg aktivieren. Wir merken, dass man, mit Fantasie und Fleiß, das eine oder andere in ein Päckchen stecken kann und man themenbezogen noch einigen Spielraum entwickeln kann. Mehr Platten verkauft man nur, wenn man sich Mühe gibt, sie gezielt mit guten Geschichten an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Wir sind hoffnungsvolle Aktivist:innen und davon überzeugt, auf die Veränderungen des Marktes mit der Zeit die richtigen Antworten zu finden, da wir nie aufgehört haben, unsere Herzensangelegenheit, die Musik, neugierig weiterzuverfolgen, und unser Netzwerk nicht zur Ruhe kommen lassen werden. Etwas zu erzählen zu haben, bedeutet auch, wach und handlungsfähig zu bleiben. Zu den Platten verkaufen wir nun Sachen aus dem Fundus und Dinge, die wir selber entwickelt haben, um unsere Marke überleben zu lassen.
Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Branche ein?
Wir leben immer indirekter, soll heißen, dass man erstmal alles in Euro verwandelt, um diese dann wieder in unsere Vorstellung von Leben zu investieren, das Atmen bleibt. Bedingt durch die rationalen Interessen der Musikindustrie ergeben sich für die kulturell geprägten Begeisterungsmanufakturen, wie wir eine sind, neue Handlungsräume, die man vielleicht wirtschaftlich maßvoller gestalten kann, wo sich das Angebot über eine bewusstere Nachfrage steuert und das künstlerische Experiment im Zusammenspiel mit den Menschen und Orten zu neuen gesellschaftlichen Spielfeldern entwickelt werden kann, ein gern ignorierter kultureller Wert. Das sind Welten, wo Beziehungen durch Kümmern gepflegt werden wollen und wo ein enormer Aufwand für ein beidseitiges Vertrauen investiert wird. Diese Form der „Volkswirkschaft“ ist und soll von diesen Großunternehmen nicht geleistet werden, das Sammeln von Daten unterstreicht die einseitige Beziehung zum Konsumenten. Für uns wird es in diesem Geschäft auch zukünftig um Beziehungen gehen, um sich in diesem Bereich ein nicht allzu überhitztes Geschäftsfeld sichern zu können. Ein Einkommen zum Auskommen, maßvolle Spielfelder auf Augenhöhe. Unser Markenkern, inspirierende Kunst in unseren Alltag zu verweben, offen für Neues zu sein und Tradition überraschend und lebendig zu gestalten, lebt von der musikalischen Vielfalt dieser Welt und von unserer Neugierde. Das sprudelnde Erzählen, das ehrliche Interesse am Anderen und der kulturelle Austausch werden die Lieder, Orte und Menschen wieder zusammenführen, und genau damit wollen wir uns „volkswirkschaftlich“ beschäftigen und hoffentlich weiterhin gut zu tun haben.
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